Tätowierung, Provokation unter der Haut

Provokation unter der Haut (I)

Eine kurze Geschichte der Tätowierung

Tätowierer: Samuel, von Tattoo Santa Catalina und Dani Sanz

Wir leben in einer Zeit ständiger Erneuerung. Nichts ist von Dauer, nichts hat Bestand: Unsere Treue zu einer Frisur, einem Mobilfunkanbieter oder einer Partei ist vergänglich. Wir fühlen uns frei, Verbindlichkeiten und Versprechen sind nichts für uns. Der „Bund auf Lebenszeit“, den die Generation unserer Eltern mit ihrer Arbeit, ihren Partnern oder ihren Waschmaschinen eingingen, sind ein Relikt vergangener Tage. Heute streben wir danach, uns ständig neu zu erfinden, immer auf Höhe der Zeit zu sein und uns vom Rest der Welt abzusetzen. Wir kaufen unsere Möbel bei Ikea und verschmähen Bands, die wir gestern noch in den Himmel gehoben haben. Und dennoch lässt sich das merkwürdige Paradox beobachten, dass sich immer mehr Menschen zu einem Schritt für die Ewigkeit entscheiden – einer Tätowierung.

Schätzungen zufolge sind 23 % der Weltbevölkerung tätowiert, wobei junge Menschen in ihren Zwanzigern den Hauptanteil ausmachen. Einen zahlenmäßigen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Tattoo-Trägern lässt sich mittlerweile nicht mehr beobachten, im Gegenteil, in den USA gibt es seit vier Jahren mehr tätowierte Frauen als es männliche Gleichgesinnte gibt. Die Leidenschaft, sich die Haut dauerhaft verzieren zu lassen, nimmt weltweit immer größere Ausmaße an. Warum aber ist das so? Was treibt Menschen heutzutage an, sich tätowieren zu lassen? Unterscheiden sie ihre Beweggründe von denen, die unsere Vorfahren dazu veranlassten, ihre Haut permanent zu markieren? Warum gibt es immer mehr Menschen, die sich in unserer schnelllebigen, flüchtigen Welt für ein Stück Ewigkeit entscheiden?

Es ist Frühling. Zwei Stunden nach einer stärkenden Mahlzeit durchstreift ein 45 Jahre alter Mann die Berge Tirols, als seine Schulter plötzlich von einem Pfeil durchbohrt wird. Er fällt zu Boden und verblutet – entweder aufgrund des Pfeiltreffers oder durch einen finalen Schlag des Angreifers. 5.300 Jahre nach seinem Tod wird seine Leiche in einem Gletscher entdeckt. Mithilfe moderner Analyse- und Messverfahren können neben dem Mageninhalt, einer Laktoseintoleranz und einem Kariesleiden zahlreiche physiognomische Merkmale der 1991 gefundenen Mumie bestimmt und seine letzten Stunden rekonstruiert werden. Zu den verblüffendsten Erkenntnissen über den Mann, der später unter dem Namen Ötzi Weltruhm erlangen sollte, zählen wohl seine 61 Tätowierungen.

Dieser Fund ist der älteste Beleg für diese Art von permanenten Hautverzierungen. Im Lendenbereich und auf beiden Beinen weist Ötzis Körper neben zahlreichen Strichmustern auch zwei Kreuze auf. Es wird angenommen, dass es sich bei diesen Hautzeichnungen, die durch in feine Einschnitte eingeriebenes Kohlepulver entstanden sind, um eine Art Akupunkturmaßnahme gegen Gelenkbeschwerden handelte. Ein religiöser oder ritueller Hintergrund kann allerdings nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden. In verschiedenen Kulturen wurden Körperpigmente vor allem als ein Akt zur Huldigung der Götter verstanden. Die Frauen im alten Ägypten tätowierten sich etwa den Bauch, um einerseits die Götter um eine gesunde Schwangerschaft zu bitten, und um andererseits Mut und Reife zu demonstrieren. Auch bei den Ureinwohnern Amerikas waren es die Götter, denen man die Tätowierungen widmete.

Allerdings sorgten diese Markierungen in der Gesellschaft des Öfteren für eine gegenteilige Interpretation. Über die Handelsrouten wurde die Technik des Tätowierens bis nach Indien, China und Japan gebracht. Bereits Tausende Jahre vor unserer Zeit prangten Hautzeichnungen im Land der aufgehenden Sonne nicht nur als dekorativer Körperschmuck auf der Haut der Oberschicht, sondern dienten außerdem als öffentliche Brandmarkung von Kriminellen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dieses Stigma dann allerdings immer mehr zu einem Identitätsmerkmal der japanischen Mafia, der Yakuza, und auch die russische Mafia bediente sich zur Kennzeichnung ihrer Mitglieder der Tätowierung.

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts berichtete Marco Polo, wie die Tätowierungen der Polynesier im Laufe ihres Lebens – ausgehend von einem spirituellen Symbol – ständig erweitert wurden, und wie sich ihr Ansehen in der Gemeinschaft durch die Erweiterung ihrer Hautbilder steigerte. Etwas Ähnliches beobachtete auch James Cook fünfhundert Jahre später unter den Tahitianern. Die Matrosen dieser Expeditionsschiffe waren es dann auch, die damit begannen, sich an Bord zu tätowieren, und die dieses „Phänomen“ so mit nach Europa brachten. Viele der Matrosen hatten auf den Schiffen angeheuert, um in ihrer Heimat einer Gefängnisstrafe zu entgehen, was dazu führte, dass Tätowierungen in der Vergangenheit vor allem mit Seeleuten und Verbrechern in Verbindung gebracht wurden. Sogar die im Römischen Reich verfolgten Christen erhielten Hautmarkierungen, die sie als Frevler und Kriminelle identifizierten.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts gewannen Tätowierungen wieder zunehmend an Bedeutung, zum einen durch die Hippies, die diese Art der Verzierung als farbenfrohe Ausdrucksform entdeckten, und zum anderen durch darauffolgende musikalische und subkulturelle Strömungen wie Punk, Rock und Rap, deren Vertreter das Tattoo mit voller Wucht ins neue Jahrtausend katapultierten. In den letzten Jahrzehnten konnten wir einen wahren Tattoo-Boom miterleben, der vor allem von Sängern und Fußballern – den Idolen der heutigen Jugend – und deren Leidenschaft für diese Art der Körperkunst befeuert und von zahlreichen Fernsehformaten, wie Miami Ink, aufgegriffen wurde. Die Frage, was die Jugend von heute dazu bewegt, sich tätowieren zu lassen, bleibt aber bestehen.

Tatuaje - Wiliam Díaz, aparejador, 44 años. Fasnia, Tenerife. Fotografía de Manu Navarro
Wiliam Díaz, Technical Surveyor, 44 años. Fasnia, Teneriffe. Photo by Manu Navarro

Aufgrund der Tatsache, dass die Entfernung von Tattoos heutzutage fast so lukrativ zu sein scheint wie das Tätowieren selbst, liegt die Vermutung nahe, dass sich viele junge Menschen in der heutigen, durch ungewisse und konfuse Zukunftsaussichten geprägten Zeit oftmals tätowieren lassen, ohne sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Leichtfertigkeit, mit der sie sich dieser Mode hingeben, endet für viele Männer und für noch mehr Frauen unter dem Laser. Die Liste der am häufigsten entfernten Motive lässt kaum Zweifel daran, dass vor allem Frauen ihren unbedachten Schritt bald bereuen: Namen von Ex-Partnern, Delfine, Schriftzüge, Stacheldrahtarmbänder, Sterne, Schmetterlinge, chinesische oder keltische Symbole, Sternzeichen und Feen.

Es gibt heute aber auch Menschen, die sich aus eher ungewöhnlichen Gründen tätowieren lassen. So etwa ein 39-jähriger Deutscher, der sich das Wort „Mini“ auf seinen Penis tätowieren lies, um im Rahmen einer Radiosendung einen Wagen der gleichnamigen Marke zu gewinnen. Oder die zwanzig Männer in Deutschland, die sich das Wort „Pascha“ auf dem Arm verewigten ließen, als sie hörten, dass das größte Bordell Europas ihnen dafür freien Eintritt auf Lebenszeit gewähren würde. Und ein gewisser Billy Gibby, dessen Gesicht mit Markennamen und Web-Adressen – unter anderem auch von nicht jugendfreien Seiten – übersät ist, versuchte tatsächlich, als „menschliche Werbetafel“ in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen zu werden. Und dann gibt es da noch eine 50-jährige Frau, die die Asche ihres verstorbenen Sohns mit Tinte vermischen und sich damit mehre Tattoos stechen ließ.

Eine Tätowierung kann in der heutigen Zeit aber auch als ein Zeichen der Solidarität mit einer Bewegung oder der Unterstützung eines guten Zwecks dienen. Steckte man sich früher Schleifen ans Revers oder band sich Armbänder ums Handgelenk, kann ein Tattoo mittlerweile die aufrichtigste Form sein, um seine Hingabe für eine Sache auszudrücken. Zu Ehren ihres Vaters, der sich das Leben genommen hatte, rief die US-Amerikanerin Amy Bleuel vor ungefähr drei Jahren das „Semicolon Project“ ins Leben, um mit dem orthografischen Symbol den Kampf gegen Depression, Sucht, Selbstverletzung und Suizid in den Mittelpunkt zur rücken. Das Semikolon soll dazu ermutigen, das Leben trotz aller Probleme weiterzuleben und daran zu glauben, dass diese Probleme nicht das Ende bedeuten müssen, sondern für einen Neuanfang stehen können. Die Initiative breitete sich schnell in den sozialen Netzwerken aus, und heute tragen Hundertausende Menschen auf der ganzen Welt stolz ein Semikolon auf ihrer Haut.

Provokation unter der Haut. Eine kurze Geschichte der Tätowierung. 7 Islands Magazine
Photo: Juan Salvarredy Tätowierer: Nazareno Tubaro

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In letzter Zeit werden Tätowierungen aber auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Frauen, die sich nach der Entfernung eines Tumors einer Brustrekonstruktion oder Brustamputation unterziehen mussten, haben mittlerweile die Möglichkeit, sich Brustwarzen tätowieren zu lassen. Genau wie Frauen, die sich für ein sogenanntes permanentes Make-up entscheiden, um ihre spärlichen oder sogar komplett kahlen Augenbrauen mithilfe von Pigmenten zu kaschieren, nutzen sie die Tätowierkunst, um ihrem Körper ein ästhetischeres Erscheinungsbild zu verleihen.

Neben all diesen relativ neuen Anwendungsmöglichkeiten von Tätowierungen lässt sich ein Großteil der Studio-Kunden allerdings immer noch aus einem ganz einfachen Grund tätowieren: Sie wollen eine oberflächliche Verzierung – oder vielleicht auch nicht ganz so oberflächlich. Es gibt nämlich Menschen, die sich tätowieren lassen, weil ihnen ihr Körper nicht gefällt, und indem sie ihren Blick von ihrem Äußeren ablenken und auf ein Tattoo richten, können sie sich an einem Detail erfreuen, das sie ausgewählt haben und das ihnen nicht von der Natur aufgebürdet wurde. Denn ein Tattoo ist immer auch ein Dialog. Zum einen kommunizieren unsere Tätowierungen mit uns selbst und erinnern uns an Ereignisse oder Personen, die wir nicht vergessen wollen. Die Tinte auf unserem Körper zeigt, wer wir sind und wer wir waren. Sie sind Illustrationen unserer Leidenschaften. Eine besondere Form des inneren Dialogs stellen dabei die sogenannten Tech Tats dar, also elektronische Tattoos, die aus elektromagnetischer Tinte und einem Mikrocontroller bestehen und in der Lage sind, Messwerte wie Körpertemperatur, Schweißbildung, Flüssigkeitsversorgung oder Stressbelastung über Bluetooth an unser Smartphone zu senden. Diese temporären Tätowierungen, mit denen sich Vitalzeichen in Echtzeit auslesen lassen, könnten sich in Zukunft zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten für die derzeit angesagten Fitnessarmbänder entwickeln.

Ein Tattoo macht uns einzigartig, denn kein Hautbild gleicht dem anderen. Dennoch dienen sie in vielen Fällen der Integration in eine Gruppe oder der Kennzeichnung als Teil eines Kollektivs. Dieser Aspekt ist die andere Seite des Dialogs: Eine Tätowierung interagiert mit unserer Umgebung. Vor einiger Zeit noch beeinflusste eine Tätowierung, die für jedermann sichtbar den Namen der Liebsten offenbarte oder die Hingabe für einen bestimmten Fußballverein verriet oder die Verehrung eines gewissen Heiligen bekundete, unser Verhältnis mit den Menschen um uns herum. Im Zeitalter der sozialen Netzwerke allerdings, in dem wir die ganze Welt an unserem Leben teilhaben lassen und in dem wir unentwegt kundtun, mit wem wir wo sind, was wir denken und was wir essen, verliert die bemalte Haut ihre exhibitionistische Einzigartigkeit und verwandelt sich in einen Kommunikationskanal unter vielen. Und trotzdem hat die gestochene Haut ihren rebellischen Aspekt keineswegs eingebüßt, auch wenn die Art der Provokation jetzt einen anderen Schwerpunkt haben mag: Beständigkeit. In dieser sich ständig verändernden Welt voll von Maskeraden und Täuschungen, kurzlebigen Trends und instabilen Allianzen, hat sich das Tattoo zur anstößigsten Manifestation für dauerhafte Verbundenheit entwickelt.

Vídeo, cortesía de Santa Cruz Tattoo

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